Besuch bei Rabe (Short story)

Ich spreizte die Finger meiner linken Hand und beobachtete die Schatten, die dabei zwischen ihnen tanzten. Im Sekundentakt plätscherte die Zeit dahin: Toc, toc, toc, toc. Das Telefon wimmerte und nach drei Mal Klingeln erlöste ich es.
Es war Rabe. Vom anderen Ende der Leitung klang seine Stimme wie die eines Fremden.
„Wenn du auch weiterhin mein Freund bleiben willst“, sagte ich träge, „ruf nicht noch einmal an.“
Ein Schnaufen.
„Was gibt es denn?“
„Ich wollte sichergehen, dass du wach bist. In zwei Stunden beginnt die Vorlesung.“
„Zwei Stunden!“ rief ich wie bei einer Katastrophenwarnung. „Wie du hörst, bin ich wach. Danke.“
„Gern geschehen.“ Rabe legte auf. Sein geschmeidiges Lächeln stand mir deutlich vor Augen.

Schwerfällig wälzte ich mich von der Rücken- in die Seitenlage. Seit wann machte Rabe sich Sorgen, ob ich eine Vorlesung verpasste? Er hatte wohl Sehnsucht nach mir und das Geld für Bier war ihm ausgegangen.

So war er: Kreuzte unangemeldet bei mir auf mit einem Sixpack Bier, das wir dann gemeinsam tranken. Der Rest überwinterte im Kühlschrank. Seit ich ihm das erste Mal bei einer unserer gemeinsamen Vorlesungen begegnet war, brachte er stets ein Sixpack zu mir nach Hause. Immer dieselbe Marke. Dabei mochte ich Bier kein bisschen. Aber ich hatte wohl den Zeitpunkt verpasst, ihn darauf hinzuweisen.

Toc, toc, toc. Ich schaute auf den Wecker neben meinem Bett. Noch eine Stunde und 45 Minuten bis zur Vorlesung. Das hatte Rabe gut geplant. Als wüsste er, dass ich eine halbe Stunde Vorbereitung brauchte, um aus dem Knick zu kommen. Zuerst duschen. Dann ein Frühstück. (Es war bereits nach elf.) Danach aufs Rad und ab zur Uni. Seit ich Rabe kannte, benutzte ich seltener öffentliche Verkehrsmittel. Ein Auto besaß ich nicht. War in der Stadt auch unnötig.

Ich schaltete das Radio ein und wartete auf den Wetterbericht. Bestes Sommerwetter versprach die Wetterfrau. Dann konnte der Tag ja losgehen.

Unterwegs überlegte ich, was ich mir für den Abend zu Essen kaufen sollte. Vielleicht ein paar Sandwiches. Oder Zutaten zum Selbermachen. Wenn ich Lust hatte, könnte ich Pasta kochen. Rabe kochte ganz hervorragende Pasta. Vielleicht lädt er mich ein, spekulierte ich. Während ich noch grübelte, schlängelte ich mich geschickt am Berufsverkehr vorbei. Selbst am Mittag schienen die Leute keine Pause einzulegen und warteten stur in zweier Reihen auf das Umschalten der Ampeln.

„Hast du mich vermisst?“, fragte ich und lud meine Tasche auf dem Klapptisch vor mir ab.
„Und wie!“ Er grinste von einem Ohr zum anderen. In seinen klugen Augen blitzte etwas auf, das mich ebenfalls zum lächeln brachte.
„Sieht ja alles sehr übersichtlich aus heute“, bemerkte ich beim Umschauen im Hörsaal.
Gleichgültig hob Rabe die Schultern. „So ist das an einem Donnerstag Nachmittag.“
„Feine Ärzte werden das!“
Rabe schwieg, doch sein Grinsen sprach Bände.

Seinen Spitznamen verdankte Rabe nicht nur seinem Haar, das pechschwarz in seinen Nacken fiel. Auch seine Nase wirkte wie gemeißelt, die Augen von stechendem Blau schienen mühelos alles zu durchschauen. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Wer wusste schon, was Rabe wirklich dachte? Wenn er etwas sagte, sprühte es entweder vor Sarkasmus oder war so ernst, dass einem das Lachen im Hals stecken blieb. Dazwischen gab es nichts.
Bei seinen Besuchen hörten wir oft stundenlang Musik, tranken Bier und redeten über Bücher. Natürlich nicht die Bücher, die wir fürs Studium lesen mussten. Rabe bevorzugte russische Lyrik und Prosa aus der Zeit des Prager Frühlings. Damit kannte er sich aus. Ansonsten las er alles, was ich ihm empfahl. Umgekehrt verhielt es sich genauso. Wenn Rabe mir ein Buch mitbrachte, konnte ich sicher sein, dass, wenn es mir auch nicht notwendigerweise gefiele, es doch meinen Horizont erweiterte. Sonst bräuchte man es gar nicht erst lesen, sagte er. Eine seiner ernsthaften Bemerkungen.
Oft las er mir Gedichte vor, die, wie er es ausdrückte, das gefrorene Meer in ihm zerhackten; ein Ausdruck, den er sich bei Kafka geborgt hatte. Manchmal konnte man annehmen, er schriebe selbst. Als ich ihn einmal danach fragte, zog er eine Grimasse und meinte, auf der Welt gäbe es bereits genug mittelmäßige Lyrik. Sein Sarkasmus machte vor der eigenen Person nicht Halt.

Toc, toc, toc. Träge floss die Zeit dahin. Eifrig schrieb Rabe alles notwendige mit, was der Dozent ausführte. Als ich ihn dabei von der Seite beobachtete, kam mir der Gedanke, dass eine Brille ihm gut zu Gesicht stünde. Sicher wirkte er dadurch noch klüger. Unweigerlich würde er das Vertrauen seiner Patienten gewinnen, die Schwestern würden ihn anhimmeln und seine Kollegen wären von seinen Worten begeistert. In dem Moment sah er auf und mich an. Sein Blick traf mich wie ein Stromschlag.
„Träum’ nicht“, ermahnte ich mich im Stillen selbst, nahm den Stift zur Hand und beeilte mich, meine Notizen zu ergänzen.

„Wieso hast du dich für ein Medizinstudium entschieden?“, fragte er einmal, als wir abends beisammen saßen.
Die Antwort fiel mir leicht; den Grund kannte ich seit meiner Kindheit. Wie in Stein gehauen stand er vor meinem geistigen Auge. „Ich wollte schon immer Veterinär werden. Auch andere Tiere sollen ein gesundes und erfülltes Leben haben.“ So drückte ich es aus. Denn biologisch betrachtet gehört auch der Mensch zu den Tieren. So sehr unterscheiden wir uns nicht. Es gibt zwar Unterschiede – zum Beispiel sind Delphine und Haie eindeutig die besseren Schwimmer, Schwalben und Zeisige verstehen sich besser aufs Fliegen, Fledermäuse wissen besser vom Sonar Gebrauch zu machen – aber in allen wesentlichen Dingen ähneln wir einander. Wir alle fürchten den Tod.
„Hehre Absichten also“, kommentierte Rabe und trank sein Bier.
„Und was war dein Grund, wenn ich fragen darf?“
„Geld und Ansehen“, erwiderte er so trocken, dass ich mich an meinem Bier verschluckte. Ich prustete zwei, drei Mal, und er klopfte mir lachend auf den Rücken. Über seine wahren Gründe ließ er mich im Dunkeln.

Der Dozent beschloss die Vorlesung mit einigen Hinweisen zu den anstehenden Prüfungen und entließ uns in den späten Nachmittag. Noch bevor der Raum sich gänzlich geleert hatte, stürmten schon die nächsten Wissbegierigen hinein. Mühsam drängten wir zwischen ihnen hindurch nach draußen, wo wir kurz verschnauften. Als wären wir nur knapp einer Lawine entkommen.
„Lass uns essen gehen“, schlug Rabe vor. „Worauf hast du Lust?“
„Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern Pasta essen.“
„Da komme ich wohl ums Kochen nicht herum, wie?“ Er wusste genau, dass ich seine Pasta am liebsten aß. „Na schön. Du bist hoffentlich gut in Form. Bis zu mir ist es eine kleine Radtour.“
„Weiß ich doch.“

Bevor wir zu ihm fuhren, kauften wir im nächsten Supermarkt passierte Tomaten, rote Zwiebeln und ein Sixpack Bier. Alles andere, sagte Rabe, habe er da. Wenn mir eher nach Wein zumute sei, sollte ich es sagen, zu Hause habe er keinen vorrätig. Wieder verpasste ich die Gelegenheit, meine Abneigung gegen Bier kundzutun.
„Nicht nötig“, antwortete ich. Da er nicht zuließ, dass ich irgendetwas davon selbst bezahlte, wollte ich seine Großzügigkeit nicht noch mehr ausnutzen. Immerhin gestattete er mir, ihm beim Kochen zur Hand zu gehen. Dabei sah ich es weniger als Hilfe, sondern vielmehr als meinen Beitrag zum gemeinsamen Mahl.

„Wir dürfen nicht den Mut verlieren, du und ich“, sagte Rabe nach dem Essen. Beide hatten wir schon jeweils eine Dose Bier intus, die zweite zur Hälfte geleert. Im Wohnzimmer hing noch der Duft von gekochten Spaghetti und Basilikum. Aus der Stereoanlage drangen dezente Bambusflötenklänge mit Klavierbegleitung. Wovon hatten wir zuletzt gesprochen?
„In einer ungerechten Welt wie dieser werden wir es schwer haben, unsere Ideale zu verwirklichen. Aber wir dürfen nicht nachgeben.“
Schweigend wartete ich, dass er fortfuhr.
„Es gibt nur wenige Menschen, die dem Leid dieser Welt gewachsen sind. Die meisten verschließen ihre Augen und Ohren. Und wenn sie erst einmal wegsehen und -hören, berührt sie nichts mehr. Als Ärzte werden wir täglich mit neuem Leid konfrontiert sein. Ein erfülltes Leben für jeden ist eben nicht möglich. Da hilft auch kein Gedicht von Jessenin. Dennoch – du und ich, wir dürfen uns nicht in dieser Trostlosigkeit verlieren.“
Das gefrorene Meer in uns. Ich dachte an seine Worte; Kafkas Worte.

Das Meer tost unerbittlich und reißt alles mit sich fort. Delphine jagen Blauwalbabys. Tintenfische schießen blitzschnell nach vorn und verschlingen ihre ahnungslose Beute. Mittendrin eine riesige Müllinsel, deren Mikroplastik langsam alles Leben aushungert. Eine ungerechte Welt. Was hatten wir dem entgegenzusetzen?

„Keine Angst“, sagte ich, indem ich mein Bier erhob, „Wenn es soweit ist, werde ich an deine Worte denken. Die Axt für das gefrorene Meer in mir.“
Rabe nickte bedächtig. „Vielleicht sollte ich doch anfangen Gedichte zu schreiben.“
Grinsend prostete er mir zu und leerte seine Bierdose in einem Zug. Auch ich trank noch einen Schluck.
„Danke für das gute Essen“, sagte ich zum Schluss. Bei Gelegenheit würde ich mich revanchieren.
„Danke für deine Gesellschaft“, entgegnete Rabe überraschend. Ganz ohne Sarkasmus. So etwas hatte noch nie jemand zu mir gesagt. Bisher hatte jeder meine Anwesenheit als eine Selbstverständlichkeit erachtet. Einschließlich mir. Wieder vernahm ich das Klopfen der Sekunden. Toc, toc, toc, toc. Aber die Welt schien sich nicht zu bewegen. Was war das nur?
„Dann bis morgen“, sagte ich.

Einen entscheidenden Unterschied gibt es doch, ging es mir kurz vor dem Einschlafen durch den Kopf. Im Gegensatz zu den meisten anderen Tieren können wir Menschen uns entscheiden, ob wir Leid zufügen oder es unterlassen. Nicht immer natürlich, aber in einer ausreichenden Anzahl von Fällen. Ausreichend, um Verantwortung für unsere Entscheidung zu übernehmen. Tintenfische und Haie haben diese Freiheit nicht. Wenn ein Kuckuck nicht alle anderen Küken aus dem Nest wirft, sinken seine Überlebenschancen. Instinktiv schiebt er deshalb seine Stiefgeschwister über den Rand des Nestes, sobald er geschlüpft ist. Ihn trifft keine Schuld. Die Vogeleltern bemerken den Unterschied nicht einmal. Oder sie bemerken es, können jedoch nichts unternehmen. Auch sie trifft keine Schuld. Sie füttern das Kuckuckskind durch und der Kreislauf setzt sich fort. Niemand trägt Verantwortung. Eine ungerechte Welt.
In der Dunkelheit waren meine Hände kaum zu erkennen. Nur ihr Umriss zeichnete sich gegen das nächtliche Dunkel meines Zimmers ab. Tief atmete ich ein und aus. Dann bis morgen, echote es in meinem Kopf.

Toc, toc, toc. Toc, toc, toc.