Der Gesang des Windes (Kurzgeschichte)

Laura wuchtete die Basstrommel auf die Ladefläche. Nachdem sie ihr Drumset, ihre Viola und die Querflöte verstaut hatte, warf sie einen prüfenden Blick auf das Equipment. Alles schien bereit zur Abfahrt. Mint und sie hatten den Wagen für das Konzert besorgt, Dariusz würde ihn rechtzeitig wieder an der Carsharing Station abgeben.
„Lasst uns feiern gehen!“, rief Kim Sungjae, der seinen Cellokasten schulterte. „Wir haben einen Tisch im Teehaus reserviert, da sollten wir uns beeilen. Ist nicht so, als seien wir die einzigen, die dort gern einkehren.“
„Wo ist Andrej?“, fragte Laura, doch bevor sie eine Antwort erhielt, bemerkte sie ein Vibrieren ihres Telefons. Sie hatte es in den letzten zwei Stunden im Nicht Stören Modus gehabt und war erschrocken, als sie die Anzahl der entgangenen Anrufe erblickte. Jemand hatte ihr eine Textnachricht geschrieben. Der Absender war unbekannt.
„Andrej und Mint sprechen noch mit dem Veranstalter, wegen der Aufnahmen. Wir sind zwar eine kleine Band, aber die haben sich echt für uns ins Zeug gelegt, dass wir das Konzert durchziehen konnten.“
„Ich muss los“, rief Laura mitten in die Unterhaltung. „Wir treffen uns später im Teehaus, okay?“
„Klar. Wohin willst du so eilig?“ Doch Kim Sungjae erhielt keine Antwort. Laura lief bereits zum Tor und er sah nur noch das Flattern ihres roten Schaltuchs.

Zu Lauras Glück wartete das nächste Taxi direkt vor dem Club. Sie stieg auf der Rückbank ein und nannte dem Fahrer ihre Adresse. Zwischendurch wählte sie die auf ihrem Handydisplay angezeigte fremde Nummer. Mit der anderen Hand umklammerte sie ihre Handtasche, als gäbe sie ihr irgendeinen Halt. Nach dem dritten Klingeln nahm jemand ab.
„Hallo? Ich habe eben Ihre Nachricht erhalten. Ich bin auf dem Weg.“
„Hm.“ Es war mehr ein Brummen, das offensichtlich zu einem Mann gehörte. Obwohl Laura wartete, ob der andere noch etwas sagte, blieb es am anderen Ende der Leitung still. Sie begann, in ihrem Sitz hin und her zu rutschen.
„Also … ich bin gleich da. Bis gleich.“ Wieder wartete sie, doch der andere legte vor ihr auf.
Sie fuhren durch die von Laternen erhellte Nacht durch nahezu leere Straßen. Ab und an hielten sie an einer Ampel, und mit jedem Rotsignal beugte sich Laura weiter nach vorn und reckte den Kopf, in der Hoffnung, ihren Wohnkomplex zu erkennen. Ihre Handtasche presste sie fest an sich. Als das Viertel endlich in Sichtweite kam, war sie drauf und dran, ihren Gurt zu lösen. Sobald das Taxi anhielt, sprang sie heraus und lief Richtung Hauseingang, als ihr einfiel, dass sie den Fahrer noch nicht bezahlt hatte. Mitten in der Bewegung hielt sie inne, kramte in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie und zückte einen größeren Schein.
„Behalten Sie den Rest.“ Sie streckte dem verblüfften Fahrer den Geldschein entgegen, und als der nicht schnell genug zugriff, ließ sie das Geld los und rannte davon.

Vor dem Hauseingang hockte eine dunkle Gestalt, die sie im Laternenlicht kaum erkannte. War das der Mann, mit dem Laura telefoniert hatte? Sie näherte sich langsam, obwohl sie es vor Anspannung kaum aushielt. Der Mann hingegen schien sie nicht zu bemerken und sah nicht einmal auf, als sie direkt vor ihm stand. Ihre Augen suchten den Gehweg bis zur Haustür ab. Irgendwo hier musste Hagen sein. Vielleicht sollte sie den Mann einfach fragen. Er saß mit um die Knie geschlungenen Armen da, das Gesicht zur Hälfte unter einem schwarzen Schal versteckt, der fast nahtlos in einen ebenfalls schwarzen, bodenlangen Mantel überging.
„Verzeihung“, begann sie mit klopfendem Herzen, „Wir hatten telefoniert. Das waren doch Sie?“ Mit einem Mal verunsichert, schaute Laura sich noch einmal um. Außer dem Mann in schwarz war niemand zu sehen. Endlich schien er sie auch zu bemerken, denn er hob den Kopf und musterte sie einige Sekunden lang schweigend. Dann stand er unvermittelt auf, klopfte seinen Mantel ab und zog seinen Schal noch etwas höher bis unter die Augen.
„Sie haben Hagen gefunden?“, fragte Laura, die den Kopf in den Nacken legte, um den Mann direkt anzusehen. Er war viel größer, als sie erwartet hatte, hochgewachsen wie Tigerbambus und mit breiten Schultern wie ein Kendô-Kämpfer. Statt etwas zu sagen, griff er mit einer Hand in seine Mantelinnenseite und zückte ein kleines Fellknäuel, das es sich offenbar darunter bequem gemacht hatte. Eine Weile trug er es auf dem Arm und strich durch das schwarz-weiße Fell des Katers. Dabei klimperte das Halsband leise. Hagen schnurrte wohlig und stupste seine Nase gegen die Hand des Mannes. Laura war sich nicht sicher, doch der Mann schien darüber zu lächeln. Als Laura den Kater entgegennahm, streifte sie die Hände des Mannes. Sie waren eiskalt. Dann erinnerte sie sich an die verpassten Anrufe und dass der erste von sieben schon über eine Stunde zurück lag. Hatte er etwa die ganze Zeit hier auf sie gewartet?
„Bitte entschuldigen Sie vielmals die Umstände! Es tut mir sehr leid, dass Sie meinetwegen so lange warten mussten.“
„Hm.“ Der Mann ließ seine Hände in den Manteltaschen verschwinden. Er blickte noch einen Moment lang auf Hagen, der weiterhin schnurrte, als ginge ihn das alles nichts an. Dann nickte er Laura kurz zu und ging wortlos an ihr vorbei.
„Warten Sie!“
Hagen regte sich unvermittelt und wand sich unter Lauras Griff. Es war Zeit, ihn nach drinnen zu bringen. Der geheimnisvolle Fremde schien sie ohnehin nicht gehört zu haben. Seufzend erklomm Laura die Treppe und schloss die Haustür auf, während Hagen begann, mit der roten Wolle ihres Schals zu spielen. Einige Maschen zeugten von früheren Versuchen, die Fäden zu entwirren, doch bisher hatte der Schal standgehalten. Als Laura den Kater in der Wohnung absetzte, klirrte das Halsband erneut. Die Kapsel mit dem kleinen Zettel, auf dem sie Adresse und Telefonnummer notiert hatte, war verschlossen. Der Fremde hatte das Papier offenbar nach Gebrauch zurückgelegt. Und jetzt hatte sie sogar versäumt, sich richtig bei ihm zu bedanken.
Wieder surrte ihr Handy.
„Dariusz! Ja, ich bin zu Hause. Hagen ist zurück. Ich gebe ihm noch etwas Futter und neues Wasser und komme dann zum Teehaus. Du holst mich ab? Das ist lieb von dir, aber ist es nicht zu umständlich? So weit habe ich es nicht mehr. Oh, okay. Dann bis gleich.“ Sie legte auf und betrachtete stirnrunzelnd Hagen, der sich ausgiebig putzte. „Ach du. Diesmal habe ich mir echt Sorgen gemacht, du warst ganz schön lange fort, mein Kleiner.“ Sie tätschelte seinen Kopf und machte sich anschließend daran, das Futter zu verteilen. „Zum Glück hat dieser Mann dich gefunden, auch wenn er nicht sehr gesprächig war.“ Sie seufzte. Irgendetwas musste sie sich einfallen lassen, um sich erkenntlich zu zeigen.

Dariusz stand fünf Minuten später vor der Tür und grinste sie an. „Alles klar? Geht‘s dem Kleinen gut?“
Laura nickte. „Wer weiß, wo er sich bei dieser Kälte rumgetrieben hat. Immerhin hat er wie immer einen gesunden Appetit.“ Sie warf einen letzten Blick zurück in die Wohnung, um sicherzugehen, dass Hagen ihr nicht heimlich nachgeschlichen kam. Dann schloss sie die Tür und folgte Dariusz nach draußen.
„Andrej hat sich schon verabschiedet. Aber Mint und Kim Sungjae warten auf uns und haben schon mal bestellt.“ Über sein Motorrad hinweg warf er ihr einen Helm zu. „Dann wollen wir sie mal nicht zu lange warten lassen.“ Er setzte seinen eigenen Helm auf, schwang sich auf die Maschine und startete, sobald Laura bereit war.

Über dem Eingang des Teehauses hingen Papierlaternen im Wind, die einladend leuchteten. Laura und Dariusz betraten die überdachte Holzveranda und schoben die Shoji Türen auseinander. In einem kleinen Vorraum stellten sie ihre Schuhe in ein Holzregal zu den anderen und hängten ihre Jacken an der Garderobe auf, ehe sie in den mit Tatami ausgelegten Teeraum geführten wurden. Mint und Kim Sungjae hatten es sich bereits an einem Kotatsu gemütlich gemacht, während der Tee sie von innen aufwärmte. Laura gab ein glückseliges Quietschen von sich, als sie ihre Beine unter die Decke des beheizten Tischs streckte. Es tat gut, endlich zu entspannen und die anheimelnde Atmosphäre genießen zu können. Sie atmete tief den Duft von Jasmin und Zedernholz ein und war versucht, auf der Stelle einzuschlafen, als Kim Sungjae sie an die Schläfe stuppste.
„Mich ohne ein Wort stehen zu lassen – Du hast echt Nerven, Noona!“
„Wen nennst du Noona? Nur weil ich drei Monate älter bin -“
„Jedenfalls schuldest du mir eine Portion Ramen!“
„In deinen Träumen!“ Laura tippte gleichfalls spielerisch gegen Kims Stirn.
Sie alberten noch eine Weile herum und tranken dabei ihren Tee. Dariusz bestellte ihnen Dorayaki mit Schokoladen- und Vanillecremefüllung und eine paar Mochi zum Tee.
„Die Dorayaki sind köstlich!“, rief Laura aus, indem sie ein Stück des Pfannkuchens in den Mund schob. Mint langte unterdessen nach einem der mit Bohnenpaste gefüllten Reiskuchen.
„Wir sollten wirklich öfter herkommen. Ein Jammer, dass das Teehaus über Weihnachten geschlossen hat.“
„Wir könnten Neujahr hier gemeinsam feiern.“
„Gute Idee. Aber es ist sicher schon zu spät, um etwas zu reservieren.“
Lauras Blick schweifte über die Einrichtung und die Gäste, die an vier anderen Tischen verteilt saßen. Manche saßen an flachen Holztischen im Seiza und hoben würdevoll ihre Teeschale, andere hatten sich ihr Sitzkissen für eine bequemere Sitzhaltung zurechtgelegt und stießen mit Sake an. Gedämpfte Unterhaltungen drangen zu ihr, als versuchte jeder, den Geräuschpegel so niedrig wie möglich zu halten. Sie war im Begriff, ihre Teeschale zum Mund zu führen, als ihr Blick am Eingang hängen blieb. Die Schiebetür öffnete sich und ein neuer Gast in einem schwarzen Anzug betrat den Teeraum. Die Bedienung führte ihn an einen leeren Tisch in der Ecke, nahe dem Tokonoma. Dort ließ er sich auf einem Sitzkissen nieder und gab seine Bestellung auf, ohne einen Blick in die Karte zu werfen. Offenbar ein Stammgast, dachte sich Laura und versuchte, ihre Aufmerksamkeit wieder ihren Bandfreunden zu widmen. Doch stets kehrten ihre Augen zurück zu dem Gast, der schweigend am Tisch saß, während er auf seinen Tee wartete. Das vage Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben, ließ Laura nicht los. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie ihn als den Mann, der ihr Hagen, den kleinen Ausreißer, zurückgebracht hatte. Endlich hatte sie Gelegenheit, sein Gesicht eingehender zu studieren, auch wenn zwischen ihr und ihm etwa drei Tatamimatten lagen. Ohne den Schal schätzte sie ihn auf etwa Ende dreißig. Sein Haar war voll und noch ohne graue Strähnen, und fiel ihm tief in die Stirn. In seinem Anzug wirkte er wie ein Jurist oder Buchhändler.
„Noona“, sprach Kim Sungjae sie an, dem nicht entgangen war, wohin Lauras Aufmerksamkeit sich verlagert hatte. „Kennst du den Mann oder weshalb starrst du ihn so an?“
„Ich starre nicht“, protestierte Laura, doch Kim lachte schnaufend.
Nun schauten auch Mint und Dariusz verstohlen in Richtung des Tokonoma. „Den habe ich schon ein paar Mal hier gesehen, er kommt oft her, um abends seinen Tee zu trinken. Ich glaube, er ist der Onkel des Inhabers oder so.“ Mint biss ein Stück Reiskuchen ab und aß es auf. „Jedenfalls sitzen die beiden manchmal zusammen und spielen Shôgi. Sehr gesprächig scheint er aber nicht zu sein.“
„Ja, das ist mir aufgefallen“, meinte Laura mehr zu sich selbst, ehe sie ihren Tee trank.
„Dann kennst du ihn also wirklich?“ Kims Neugier schien geweckt.
„So würde ich das nicht sagen. Aber lasst uns von etwas anderem reden. Wir haben noch immer nicht ausgemacht, was wir an Neujahr machen, falls das Teehaus ausgebucht ist.“

Satsuki seufzte. Mit Shôgi würde es an diesem Abend nichts mehr werden, doch immerhin bewirkte der Tee, dass er sich besser fühlte. Zudem hatte sein Neffe ihm ein paar Matchakekse hingestellt. Satsuki nahm einen der Kekse und knabberte daran herum, während er der Musik lauschte, die leise im Hintergrund lief. Das Spiel einer Bambusflöte, das wie der Gesang des Windes klang. Er schloss die Augen und erinnerte sich an jenen Sommerabend, als er dasselbe Stück im Garten des Teehauses vernommen hatte. Eine Shakuhachispielerin hatte sich auf der Bank neben dem Teich niedergelassen und angefangen zu spielen. Aus dem Schatten einer Zeder hatte er ihr zugehört.

„Onkel, wir schließen bald. Kann ich dir noch etwas bringen?“
„Kennst du dich mit Katzen aus?“, fragte Satsuki statt einer Antwort.
Sein Neffe schaute ihn einen Moment lang zweifelnd an, dann hob er die Schultern. „Sie kommen und gehen, wie es ihnen beliebt. Und sind wählerisch, wem sie ihre Zuneigung geben. Ein bisschen so wie du.“
„Werd nicht frech!“ Darauf erntete er ein Grinsen, bevor sein Neffe sich zurückzog. Kurz darauf kehrte er mit einem hübsch bedruckten Papierbeutel zurück, groß genug für eine Flasche Sake oder eine Schachtel Konfekt.
„Eine Aufmerksamkeit des Hauses?“ Satsuki wartete, bis sein Neffe sich zu ihm gesetzt hatte und in aller Förmlichkeit den Beutel überreichte.
„Frohe Weihnachten, Onkel. Das ist von meinem Mann und mir.“
Satsuki nahm mit beiden Händen den Beutel entgegen und stellte ihn vor sich auf den Tisch. „Ihr sollt mir doch nichts schenken.“
„Und doch hast auch du jedesmal etwas vorbereitet.“
Dazu schwieg Satsuki. Das Lächeln seines Neffen brachte ihn zum schmunzeln, doch er versuchte es zu überspielen, indem er einen weiteren Keks aß.

Eine Katze kommt und geht, wie es ihr gefällt. Satsuki dachte an die Worte seines Neffen, als er auf der Gartenbank des Teehauses saß, eingehüllt in eine Decke, die er sich geliehen hatte. Auch wenn dieses Weihnachten deutlich wärmer als in früheren Jahren ausfiel, waren sieben Grad plus keine Temperatur, um sorglos im Freien ein Buch zu lesen. Er blickte hinauf in den Himmel und sah den Wolken nach, die gleichgültig vorüberzogen. Mit Schnee an Neujahr war wohl nicht mehr zu rechnen.
Seufzend widmete sich Satsuki wieder seiner Lektüre, als sein Handy klingelte. „Schwarze Katze“ las er auf dem Display. Ein Lächeln stahl sich in seine Augen.
„Ich bin im Garten.“ Ohne eine Antwort abzuwarten legte er auf.
Ein Schwarm Krähen stob auseinander, die Kiefern erzitterten. Das Handy zurück in die Manteltasche steckend, las Satsuki an der Stelle weiter, an der das Klingeln ihn unterbrochen hatte. Über zwei Zeilen kam er jedoch nicht hinaus und legte das Buch ganz beiseite, als er den Klang einer Shakuhachi vernahm. Er hob den Blick und sah Laura unter einer Zeder stehen, wie sie der Bambusflöte die herrlichsten Töne entlockte. Sie nickte ihm kurz zu und setzte ihr Spiel fort. Ein Spiel wie der Gesang des Windes.

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